Eine Erinnerung an meine Kindheit mit DDR-Feuerwerkskörpern

In den letzten Sommerferien saß ich ein paar Tage zu Hause in  der Wohnung am Igelsteig 9 in Köpenick im Zimmer, das ich mit meinen zwei Brüdern teile und langweilte mich. Meine Mutter kam rein und sagte, ich solle jetzt mal das Zimmer verlassen, das wäre ja nicht auszuhalten mit mir. Ich sollte zur Kaufhalle, die nur wenige hundert Schritte von unserer Wohnung entfernt liegt laufen und mir mal die Autobücherei angucken. Eine Bücherei auf Rädern also, das fand ich interessant und latschte also in meinen Sandalen nebst kurzen Lederhosen, ausgestattet mit einem Netz leerer Brauseflaschen sowie einer rohen Knolle Frühstückskohlrabi knabbernd  in Richtung 5te Oberschule Conrad Blenkle, wo auch die Kaufhalle steht. Aus dem Blauen Auto dessen Bauch angeblich Ferienlektüre enthielt stiegen schon ein paar Kinder mit Büchern unter den Armen die Blechsstufen hinunter zurück auf die nach Sommerhitze riechende Straße. Schüchtern schlich ich das Treppchen hinauf, vorbei an der Frau, die die Bücher herausgab zu einem der Regale. Unentschlossen blätterte ich mich durch die Buchmeter. Am liebsten hätte ich gleich zehn Bücher mitgenommen. Eines der Werke, daß es in die engere Wahl geschafft hatte war vom Uraniaverlag. Es hieß: CHEMIE SELBST ERLEBT Beim flinken Durchblättern stieß ich auf eine Rezeptur, wie man Wunderkerzen herstellt. Eisenpulver, Alminiumbronze, bisschen Dextrin, damit das ganze ein klebriger Brei wird, in den man Fahrradspeichen tauchenkonnte und ein geheimnisvoller Stoff, der sich Kalisalpeter nannte.
Feuerwerk. Das war es. Extra dicke Wunderkerzen mit dem Mindestdurchmesser einer Luftpumpe würde ich nun bald herstellen, denn jetzt war ich ja Geheimnisträger.
Erfüllt von einem großen Machtgefühl flitzte ich nach Hause und dachte über die Beschaffung der Chemikalien nach.

Wann das bei mir mit der Liebe zum Feuerwerk losging,kann ich schwer sagen.
Es hat etwas damit zu tun, dass ich an einem Silvestertag als ich noch im Kindergarten war, bei einer Verlosung gewann. Der Preis war, dass ich zusammen mit einem Mädchen aus meiner Gruppe an einer Art Knallbonbon ziehen durfte.
Nur war dieser erste Feuerwerkskörper an den ich mich erinnere kein eigentlicher Bonbon, sondern eine Zirkusartistin in einem glitzernden Paillettenkostüm.
Wir zogen also daran, es gab einen leisen Knall, man applaudierte und ein Funken aus dem Knallsatz sprang mir auf den Handrücken und zeigte, dass ich gerade etwas schönes, aber irgendwie gefährliches gemacht hatte.

Jetzt sitze ich wieder im Kinderzimmer am Ofen. Inzwischen ist es beinahe Jahresende. Draußen vor dem Haus hängt ein gefrorenes Bettlaken auf dem Wäscheständer, den sich die Hausgemeinschaft teilt. Eben habe ich eine Wunderkerze angesteckt und aus dem Fenster geworfen. Ich muss mich in Acht nehmen, denn Herr D. Unser ABV macht seine Runde und darf mich nicht erwischen.
Übermorgen ist Silvester. Vorhin war mein großer Bruder hier und hat mir seine Tüte mit Feuerwerk gezeigt. Da war so eine blaue Papphülse mit einem dreieckigen Fuß dabei, aus der ein Kanonenschlag herausspringt. Kostet eine Mark und heißt:
FLIEGENDER BLITZ MIT SCHWEIF UND KNALL.

Ich blättere gerade in meiner Lieblingssilvestergeschichte aus Alfons Zitterbacke. WIE ICH MEIN RAKTENBÜGELEISEN BAUTE. Ich lese immer wieder diese eine Zeile: „ICH OPFERTE VIER VON MEINEN FÜNF SCHWÄRMERN, FÜR EINEN RAKTENSATZ“ Alfons Zitterbacke versucht in der Geschichte das Bügeleisen seiner Mutter zu reparieren und weil er zu wenig Ahnung von Elektrizität hat, nimmt er also eine Raketensatz, weil der das Eisen heiß macht und es sich durch die Antriebswirkung  auch schnell mit der Hand bewegen lässt. Eine gute Idee, aber was sind Schwärmer und wenn die Zitterbackegeschichte in der DDR spielt, warum kann man dann nirgendwo Schwärmer kaufen?



Heute ist Silvester.

Ich sitze gerade auf dem Bett und betrachte meinen Schatz, der in einer Tüte aus braunem Packpapier steckt. Zwei- Pfau-Knallraketen Marke Kolibri, die je siebzig Pfennige gekoset habe. Zwei Schachteln Filouknaller, auf denen Firecracker und Fire in the open! Steht. Eine hellrote große Schachtel Harzer Knaller mit zwanzig am unteren Ende zusammengedrückten Papphülsen und irgendwie ungleichmäßig aufgeklecksten Reibeköpfen. Weiter habe ich noch einen Pot à Feu mit farbigen Sternen, sowie einen Brilliantwirbel, der angenagelt werden muss. Der Nagel, um den sich das Feuer drehen wird, ist mit durchsichtigen Klebeband an der Papphülse befestigt. Draußen vor dem Fenster hat es gerade laut gekracht. Jetzt leuchtet das Dach des gegenüber liegenden Wohnhauses hellgrün, jetzt rot.
Die Mutter hat gerufen. Es gibt Würstchen mit Kartoffelsalat. Dazu guckt die Familie erst einen Indianerfilm mit Gojko Mitic und anschließend den traditionellen Fernsehschwank von Götz Jäger. Gerd E. Schäfer als Maxe Baumann gehört schließlich irgendwie zu unserer Familie, genau wie Rolf Herricht und Helga Hahnemann, die beide im Laufe der leichten Silvesterabendunterhaltung unter großen Applaus des Publikums auf der Studiobühne erscheinen. Wir sitzen mit Oma im Wohnzimmer. Mein großer Bruder ist mit seinen Kumpels unterwegs und probiert wahrscheinlich jetzt seinen fliegenden Kanonenschlag aus.
Eben hat es laut im Hausflur gerummst. Herr Viereck der zwei Stockwerke unter uns wohnt ist schon ein bisschen angetütert und hat einen Knaller – wahrscheinlich Harzer -  ins Treppenhaus geschmissen. Jetzt riecht alles nach Schwefel und da, wo der Knaller in zwei ungleiche Hälften zerrissen wurde, liegen Sägespäne auf der Treppe.

Ich ziehe meinen Anorak an und gehe  mit ein paar von meinem Schätzen runter auf die Wiese vor dem Haus.Im Treppenhaus vor Herrn Vierecks Wohnung zupfe ich einmal Fire in the open aus der nagelneuen Schachtel. Die gelben Pappröhrchen, die wie gefüllte Streichhölzer aussehen lauern in angriffslustiger Habachtstellung. Ich ziehe meine vorletzte Schachtel Risaer Zündwaren aus der Anoraktasche. Die Streichhölzer klappern leise in meiner Hand, bevor ich den Filoukopf über die mittlerweile Speckschwartenglatte Reibefläche ziehe. Nach vier bis fünf Versuchen blitzt es kurz, worauf das erhoffte und mich jederzeit glücklich machende zischende Geräusch der Zündschnur ertönt. Jetzt riecht es zuerst nach verbrannten Streichholzkopf und dann sofort nach mehr Schwefel. Mit einem leisen Geräusch fliegt mein Knaller gegen die Wohnungstür meines Silvestergegners und ich flitzte zwei Treppen tiefer und halte kurz die Luft an. Schon machte das Treppenhaus ein Geräusch, als würde jemand mit voller Wucht mit einer Peitsche auf das Holzgeländer eindreschen. Beinahe hätte ich Herrn Schweller der mit einem Blecheimer in der Hand auf dem Weg in den Keller war, um zum letzten Mal im alten Jahr Kohlen zu holen, mit meinem Streich einen
Herzstillstand beschert.
Ein paar Wohnungstüren gehen auf. Jemand meckert, ein paar Erwachsene lachen.

 Draußen vor dem Haus rutsche ich über eine zugefrorene Pfütze rüber zu ein paar anderen Jungen aus der Nachbarschaft. Einer hat ein Metallrohr unten mit dem Schraubstock seines Vaters zugedrückt und benutzt seine Erfindung als Pistole. Einfach einen Knaller anzünden und oben reinstecken und das Rohr in den nächtlichen Himmel halten. Bamm – ein Strahl goldener Schwarzpulverfunken fliegt hinaus in die unruhige Nacht und hat einen weiteren Geist verjagt. Das ist es, was wir heute Nacht mit all dem Geballer und Herumgefunkel tun – wir verjagen Geister. Vor einem Publikum von mittlerweile drei Jungen und etwa gleich vielen Mädchen stelle ich meinen Feuertopf (DDR-Deutsch Standgerät) der Sorte Potà Feu an den Wegesrand und stecke die beängstigend kurze in den Papiertopf geleimte Zündschnur an. Dabei achte ich darauf, ja nicht das Gesicht über das obere Ende des Feuerwerkskörpers zu halten, das mit einem Stopfen aus warnroter Pappe verschlossen ist. Goldene Funken huschen aus der Zündschnur und ich springe einen großen Schritt zurück zu den anderen, die jetzt aufgeregt auf den eine Mark sieben Pfennige teuren zwei Sekunden - Silvesterspaß lauern. Der Pot à Feu mit farbigen Sternen lässt sich nicht lumpen und kommt seiner persönlichen Planerfüllung nach, in dem er mit einem Knall ein ganzes Nest voller goldener Schlangen über unsere Köpfe spuckt. Einige Atemzüge lang stehen wir Kinder jetzt in einem hellen Feuerregen und ich rieche, dass mindestens ein paar meiner Augenbrauen angesengt sind. Die auf der soeben geleerten, jetzt im Sterben befindlichen Papphülse angekündigten farbigen Sterne ließen sich übrigens nicht sehen. Das muss wohl ein Druckfehler auf der Verpackung sein. Ein glühender Filzpropfen landet geräuscharm vor meinen Füßen. Der muss in meiner Papphülse drin gesteckt haben.
Schon ist meine Sensation, die eben noch Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit war, zu Geschichte geworden. Die anderen Kinder sausen bereits über die Wiese zu einem anderen wichtigen strategischen Punkt. Jemand stellt
ein eigelbfarbenes Papptöpfchen auf den Bürgersteig. Bengalische Zylinderflamme.
Die kenne ich schon. Sie enthalten ein farbiges Feuer, das grün oder wenn man Glück hatte rot sein kann  - rot kommt seltener vor -  und sieht um einiges strahlender aus. Rasch wird das den Feuerwerkssatz frei gebende Papierblättchen
durchstoßen und das ins Innere des Töpfchens gepresste Überraschungspulver entzündet. Das Häuserviertel ist jetzt in ein grelles, qualmendes Smaragdgrün getaucht. Einige Schritte entfernt auf dem Spielplatz, auf dem sonst Murmeln und Tischtennis gespielt wird, stellt jemand eine weitere Papphülse mit einem Dreieckigen Pappfuß auf dem Boden. Die Hülse ist kleiner und dicker als die anderer Feuertöpfe. Oben ist sie mit einem Plastikstopfen verschlossen, in dem ein Kupferröhrchen als Zünder und eine Art von Auslassöffnung steckt.
Jemand, dessen Gesicht in eine Kapuze gehüllt ist, zündet das Ding mit einer Wunderkerze an. Es gibt einen Funkenregen, der gleich in ein lauter werdendes Zischen übergeht. Es ertönt ein durchdringender lauter Pfeifton aus dem kleinen Schreihals, der einen den Kopf einziehen ließ, weil man gleich einen Knall erwartet, der übrigens ausbleibt. Das Pappding hat jetzt seinen Zweck erfüllt und kippt um. Wer will, kann jetzt die Aufschrift Pyropfiff auf dem Etikett lesen.
Zurück in die elterliche Wohnung gekehrt, weil gleich mit Sekt auf das neue Jahr angestoßen wurde, steckt mein Kopf rasch in einer sehr dicken Wolke aus Zigarettenrauch, Alkohol und heißem Pflanzenfett. Die Mutter steht in der Küche und fischt selbst gemachte Pfannkuchen aus der mittels Sieb und Kochtopf improvisierten Fritteuse. Im Fernsehen gibt es eine Neujahrsansprache mit Willy Stoph. Die Balkontür wird jetzt geöffnet. Mutter setzt mir meine Russenschapka auf und ermahnt mich und meinen meinen Bruder, vorsichtig zu
 sein. Draußen im Häuserkarre fliegen schon farbige Magnesiumsterne und laute Geräusche kreuz und quer in den Himmel. Eine meiner Knallraketen stecke ich mit dem Holzstab in das metallene Rohr, in dem an Staatsfeiertagen sonst unsere DDR-Fahne flattert. Der Fahnenhalter ist für Raketenverhältnisse in einem etwas zu flachen Winkel angebracht. So schießt meine Rakete unerwartet flach vom Balkon schräg über das Dach des gegenüber liegenden Hauses, wo die Nachbarschaft den von mir teuer bezahlten Knall vernehmen kann. Ich stürmt in die Wohnung zurück, um meinen Brillantwirbel irgendwo zu befestigen. Da es nirgendwo auf dem Balkon etwas gibt, an das ich meine Sonne nageln kann, leiht mir Mutter unseren Schrubber aus, damit ich mein Feuerchen an dessen Stiel hämmere.
Schon summt der als Feuerwirbelhalter umfunktionierte Schrubberstiel in meiner Hand und für unbezahlbare Augenblicke gehört mir wieder etwas nachbarschaftliche Aufmerksamkeit. Helle weiße längliche Funken fliegen in einem schönen Kreis um das verlängerte Ende meiner Hand und verzaubern unseren Balkon in etwas äußerst unalltägliches. Unten vor dem Gebäude nebenan wedeln ein paar kleine Kinder unter Aufsicht ihrer Mütter mit Wunderkerzen. Überall zischt und knallt etwas. Mein Herz schlägt heftiger und weiter vor lauter Freude über so viel farbiges Feuerlicht. Jetzt stellt jemand einen fliegenden Kanonenschlag unten genau vor unsere Haustür. Ein heller Feuerstrahl knallt aus der blauen Papphülse und überschlägt sich wenige Armlängen von meinem Gesicht entfernt.
Ein silberne Wirbel, der mit einem sehr lauten Knall verlischt. Trotz des allgemeinen Naujahrsgetöses höre ich, wie ein paar Meter entfernt die jetzt nutzlose Papphülse, die eben noch den Blitzknall ausgeatmet hat, auf den Gehsteig aufschlägt. Aus einem etwas entfernteren Wohnungsquadrat kann man kurz darauf einen dumpfen Donnerschlag hören, der wahrscheinlich von einem Armeeknallkörper D herrührt. Ehrensache ist, wer seine drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee verbracht hat, klaut solche Dinger und überrundet mit ihnen so ziemlich alles, was man an in den zurückliegenden drei Tagen in den Drogerien und Zeitungsläden hätte kaufen können.